„In einer vernünftigen Gesellschaft verändert der Begriff der Arbeit seinen Sinn.“
(Max Horkheimer)
Es ging der SPD schon damals nicht sonderlich gut, als sie nach fünfjähriger Regierungszeit im Herbst 2003 ihren Bundesparteitag in Bochum einberief. Um längst verlorene Attribute wie Bodenständigkeit, Basisnähe und Kampfgeist zu suggerieren, verfiel man auf die abstruse Idee, einen modernen Liedermacher zu engagieren. Die Wahl fiel auf den Bonner Barden Götz Widmann, der es sich dann auch nicht nehmen ließ, allen Ernstes ein „Recht auf Arbeitslosigkeit“ einzufordern. Die Reaktion der Delegierten reichte von fassungsloser Ungläubigkeit bis hin zu provokativem Weghören (Ausschnitte dieses Auftritts sind auf der DVD „Harmlos“ dokumentiert). Nun muss man wissen, dass der Bochumer Parteitag seinerzeit von massiven Protesten begleitet wurde. Es war das Forum, von dem aus Gerhard Schröder die Grundzüge seiner Agenda 2010 verkündete, der größten Eigentumsumverteilung von unten nach oben in der Geschichte der Bundesrepublik. Kern dieser Politik waren die nach einem kriminellen Manager benannten Gesetze für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (Hartz I-IV). Die SPD schuf damit die Voraussetzungen für massenhafte Lohn- und Rentenkürzungen, für Leiharbeit, Zeitarbeit und Prekarisierung, für einen nie dagewesenen Abbau sozialer Rechte. Die üblen Folgen dieser Politik sind hinlänglich dokumentiert, völlig zu Recht führte sie auch die SPD in die größte Krise ihrer 150jährigen Geschichte.
Ein bekannter Kölner Lokalpolitiker kandidierte jüngst mit der Losung „Von Arbeit muss man leben können. Ohne Arbeit auch!“ Recht hat er. Die meisten Menschen gehen heute einer geregelten sozialversicherungspflichtigen Erwerbsarbeit in Vollzeit nach, von der sie (und ihre Familien) auskömmlich leben können. Nicht immer ist diese Tätigkeit jedoch sinnstiftend. Zuweilen schadet sie mehr als sie nutzt, führt zu Entfremdung, körperlichen, seelischen und geistigen Erkrankungen. Radikale Verkürzungen der Wochen- und Lebensarbeitszeit könnten hier Abhilfe schaffen, flankiert von einer solidarischen Mindestrente und einer sanktionsfreien Mindestsicherung. Wir leben in technologisch hochentwickelten Zeiten und könnten es uns locker erlauben, alle viel kürzer zu treten. Trotzdem erleben wir eine archaisch anmutende Erhöhung von klassischer Erwerbsarbeit, die enormen sozialen Druck erzeugt, stetig im- und explodiert. Viele Menschen können und wollen sich den bestehenden kapitalistischen Produktionsverhältnissen, der real existierenden Arbeitswelt nicht mehr unterwerfen. Ein moderner Sozialstaat sollte das aber ohne weiteres ermöglichen: Umfängliche materielle Grundversorgung, Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, die freie Entfaltung der Persönlichkeit werden gewährleistet. Grundlage dafür muss sein, dass die Geringschätzung, Diskriminierung und Diskreditierung nicht erwerbstätiger Mitmenschen ein Ende hat. Im besten Falle entfaltet sich dann das Leben in seiner ganzen Mannigfaltigkeit, ein gutes Leben für alle. Dafür ist der Begriff der Arbeit völlig neu zu definieren. Neben die klassische Erwerbs- oder Lohnarbeit treten gleichberechtigte Formen der Lebensgestaltung und Ausformung, von denen hier drei kurz umrissen werden sollen:
1.) Bürgerschaftliches Engagement, ehrenamtliche Tätigkeiten und politische Arbeit. Obwohl die meisten Menschen bereit wären, sich in diesen Bereichen einzubringen, verhindern die rigiden Arbeitszeitstrukturen dies nahezu. So bleibt ein nahezu unerschöpflicher Quell sozialen Potentials weitgehend unausgeschöpft; die Neigung, seinen Mitmenschen Gutes zu tun wird effektiv unterbunden. Der aristotelischen Charakterisierung (Zoon politikon) des Menschen als sozialem Lebewesen nach, gehört aber gerade das zur elementaren Wesensbestimmung.
2.) Kindererziehung, Beziehungsarbeit, Altenbetreuung und die Pflege Angehöriger. Erhebungen des Statistischen Bundesamtes zufolge, werden in Deutschland jährlich 56 Milliarden Stunden in bezahlter Arbeit geleistet. Dem stehen aber 100 Milliarden Stunden unbezahlter Arbeit gegenüber. Nun geht es nicht darum, die (nicht gewerbliche) Familienarbeit adäquat zu vergüten. Dass diese aber einer derart geringen Wertschätzung und Würdigung unterliegt, ist ein gesellschaftspolitischer Skandal.
3.) Reflektion, Kontemplation und Arbeit an sich selbst. Die Menschen neigen dazu, sich weiter zu bilden und zu entwickeln. Sie wollen Kompetenzen, Kenntnisse und Fähigkeiten entdecken und befördert wissen. Man führe sich vor Augen, wie viele Bücher noch zu lesen wären, wie viele Sprachen noch gelernt, wie viele Gegenden und Landschaften noch entdeckt, erkundet und durchwandert werden wollen. Schlummernde Anlagen wollen geweckt, der Mensch sich lebenslang lernend weiterentwickeln dürfen. Es bedarf Zeit für sich selbst, zur Identifizierung und Sinnsuche, ebenso wie für Muße und Entspannung.
Diese drei Bereiche mit der klassischen Lohnarbeit in ein vernünftiges, individuell ausbalanciertes Verhältnis zu setzen, wird in fortschrittlichen Kreisen zunehmend diskutiert. Besonders erwähnenswert ist dabei die „Vier-in-einem-Perspektive“, die die Soziologin Frigga Haug vor einigen Jahren ausformuliert und seitdem kontinuierlich weiterentwickelt hat. Das etwas kryptische Kürzel stellt die Aufforderung dar, Politik um die vier wesentlichen Bereiche menschlicher Tätigkeit zu machen und diese dabei zu verknüpfen. Vereinfacht dargestellt sollen sich die etwa 16 verfügbaren Stunden des Tages in die vier notwendigen Bereiche Erwerbs- oder Lohnarbeit, Reproduktion, Politik und Kultur einteilen lassen. Jeder Mensch soll in die Lage versetzt werden, sein Leben so einzurichten, dass er idealerweise je vier Stunden am Tag in jedem dieser Bereiche verbringen kann. Diese zeitliche Einteilung stellt natürlich nur einen groben Kompass dar, dem niemand sklavisch und unreflektiert folgen soll. Dies ist ein Fernziel, eine Vision, die hier und heute nicht durchsetzbar ist, aber dennoch der Bestimmung von politischen Nahzielen dienlich sein kann. Der Philosoph Ernst Bloch hat darauf hingewiesen, dass Utopie nicht nur Zukunft sei, sie erhelle vielmehr die Gegenwart.
Die 4-in-1-Perspektive ist ein in vielfacher Hinsicht revolutionäres Modell, das es ermöglicht Gesellschaft von unten zu machen. Sie ist emanzipatorisch, weil sie die nicht profit- oder konsumorientierten, aber notwendigen gesellschaftlichen Tätigkeiten aus der offiziellen Nichtwahrnehmung herauslöst. Sie ist transformatorisch und stellt einen permanenten Lernprozess dar, der die Entwicklung der eigenen Interessen kontinuierlich befördert. Das System der staatlich organisierten „Politik von oben“ wird strukturell demokratisiert, indem sich die Menschen sukzessive in die Lage versetzen, mit zu entscheiden, Verantwortung zu übernehmen und die Gesellschaft zu gestalten. Bereits Rosa Luxemburg nannte diese Perspektive „sozialistische Demokratie“. Dem gegenüber steht das bis heute herrschende Stellvertretermodell, Politik und fast sämtliche Entscheidungsgewalt zu delegieren. Dass einige wenige Politik machen, deren Folgen die übergroße Mehrheit ausbaden muss, ist ein veritabler Anachronismus. Wer nicht handelt, wird behandelt. Nebenbei ist das geschilderte Modell geeignet, das Problem der Arbeitslosigkeit zu überwinden. Das gültige Zeitregime wird radikal in Frage gestellt, kulminierend in der bewusst provokativen Forderung nach Teilzeitarbeit für alle. Zusammengefasst geht es um nichts weniger als „eine konkrete Utopie, die alle Menschen einbezieht und in der endlich die Entwicklung jedes einzelnen zur Voraussetzung für die Entwicklung aller werden kann“ (Frigga Haug).
Zeitlich parallel zu den oben genannten Ausführungen, aber ungleich stärker im Fokus der Öffentlichkeit, wird seit wenigen Jahren über das sogenannte bedingungslose Grundeinkommen diskutiert. Obwohl die 4-in-1-Perspektive den weitergehenden Ansatz darstellt, weisen auch die kursierenden Grundeinkommensmodelle grundsätzlich in die richtige Richtung: die Freiheit, über eigene Lebensentwürfe und Tätigkeiten selbst entscheiden zu können. Einer der verdienstvollen Protagonisten dieser Bewegung ist Götz Werner, als Mitverursacher muss aber Peter Hartz gelten, dessen krudes Arbeits- und Menschenbild einer radikalen Antithese zwingend bedurfte. Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass es ja nicht der Sinn des Lebens sein kann, die Menschen irgendwie in Arbeit zu zwingen, sei sie noch so fragwürdig, sinnfrei, unmoralisch oder schadhaft (Hauptsache Arbeit!). Vereinfacht gesagt zielt das bedingungslose Grundeinkommen darauf ab, dass jeder Bürger einen gesetzlichen Anspruch auf monetäre Grundversorgung durch das im Staat verfasste Gemeinwesen haben soll. Und zwar in existenz- und teilhabesichernder Höhe, ohne Bedürftigkeitsprüfung, Gegenleistung oder Arbeitszwang. Ein Kernziel hierbei ist es, die verfestigte Verkoppelung von Arbeit und Einkommen aufzubrechen, zumal viele Arbeitsvorgänge im Zuge des technischen Fortschritts und der Produktivkraftentwicklung nicht mehr zeitgemäß sind. Es ist zu konstatieren, dass vielen Menschen die Sinnhaftigkeit ihrer Tätigkeit abhandengekommen ist. Durch die finanzielle Sicherung ihrer Grundbedürfnisse sollen alle potentiell in die Lage versetzt werden, zu arbeiten weil sie wollen, und nicht weil sie müssen. Wer entsprechend mehr verdienen, leisten oder erreichen möchte, findet viel leichter als bisher Betätigungsfelder, in denen er sich ohne existenziellen Druck, hochmotiviert, wertgeschätzt und gut bezahlt entfalten kann. Der häufig geäußerte Einwand, dass ja keiner mehr arbeiten würde, wenn er nicht müsste, ist heute weitgehend widerlegt. Es handelt sich dabei im Wesentlichen um Behauptungen, die die so Vermutenden zumeist auf Dritte projizieren. Idealerweise lassen sich die umrissenen sozialen und wirtschaftlichen Entzerrungen um die ökologische Komponente ergänzen: Nämlich die Diskussion und die Gestaltung dessen, was vom Menschen verantwortbar, nachhaltig und gesund produziert und konsumiert werden soll. Zur Finanzierbarkeit verschiedener Grundeinkommensmodelle kursieren übrigens unterschiedliche Konzepte, deren Kernansatz zumeist um eine radikale Steuerreform und den Umbau der bestehenden sozialen Sicherungssysteme kreist.
Wie auch immer sich die notwendige Neuverteilung von Arbeit, Geld und Zeit zukünftig gestalten wird, man hüte sich vor falschen Propheten, deren Verheißungen sich auf die Ankündigung „Arbeitsplätze zu bringen“ oder „Arbeit zu schaffen“ reduziert. Vor allem letztere Forderung ist wörtlich betrachtet in sich widersprüchlich und demnach kontraproduktiv, also weder lösungsorientiert noch zeitgemäß. Weitsichtiger war damals schon Karl Marx, der in seiner „Kritik der politischen Ökonomie“ nach Möglichkeiten (Arbeitszeitverkürzung, Produktivkraftentwicklung, technologischer Fortschritt) suchte, das Joch der Arbeit in das „Reich der Notwendigkeit zurückzudrängen, um im Reich der Freiheit menschliche Wesenskräfte zu entwickeln“. Naturgemäß entstammen die Erkenntnisse des Universalgelehrten seiner Zeit, bzw. der gesamthistorischen Entwicklung einschließlich des Hochkapitalismus des 19. Jahrhunderts. Marx ist die Methode, brillant in der Analyse, aber die Wege in die Zukunft haben andere gewiesen. Vielfache Lösungsansätze wurden seitdem aufgezeigt und furchtbare wie fruchtbare Wege beschritten. Wie immer die Frage bleibt, eine Kernforderung bleibt permanent wie penetrant postuliert: Der existenzielle Zwang zum Verkauf der Ware Arbeitskraft zwecks Reproduktion des Kapitals durch Lohnarbeit, muss der Vergangenheit angehören. Gleiches gilt für die radikale Ökonomisierung der Zeit, die viel zu lange schon soziale Strukturen bedroht und zerstört hat. Es gilt, die Zeit, als die elementare Wertschöpfungsressource des 21. Jahrhunderts anzuerkennen und dem strukturellen Raubbau nachhaltig zu entziehen. Sonst bleibt es bei dem, was schon Marx über den Arbeitstag geschrieben hat: „Es versteht sich zunächst von selbst, dass der Arbeiter seinen ganzen Lebenstag durch nichts ist außer Arbeitskraft, dass daher all seine disponible Zeit von Natur und Rechts wegen Arbeitszeit ist, also der Selbstverwertung des Kapitals angehört. Zeit zu menschlicher Bildung, zu geistiger Entwicklung, zur Erfüllung sozialer Funktionen, zu geselligem Verkehr, zum freien Spiel der physischen und geistigen Lebenskräfte, selbst die Feierzeit des Sonntags – reiner Firlefanz!“ (Karl Marx, Das Kapital, 1. Band, MEW Band 23, S. 280)